Im Mondlicht sehen
die Vogelscheuchen wie Menschen aus -
erbarmenswert
Shiki
Ich zögere niemals bei meinen Entscheidungen, und da ich
immer gewiß bin, das Vergnügen in dem zu finden, was ich tue, wird
nach meinen Prinzipien niemals die Reue den starken Reiz abstumpfen, weil ich
mir diese Prinzipien schon in frühester Jugend gebildet habe und stets
konsequent nach ihnen handle. Sie ließen mich die Leere und Nichtigkeit
der Tugend erkennen, die ich hasse und zu der man mich nie zurückkehren
sehen wird. Sie haben mich überzeugt, daß das Laster nur besteht,
um den Mann diese geistige und physische Beschwingung fühlen zu lassen,
die eine Quelle der köstlichsten Wollüste ist. Und ich gebe mich ihr
hin, ich habe mich zur rechten Zeit über die Chimären der Religion
hinweggesetzt, vollkommen davon überzeugt, daß die Existenz eines
Schöpfers die empörende Absurdität ist, an die selbst Kinder
nicht mehr glauben. Ich habe kein Bedürfnis, meine Gelüste zu bekämpfen,
um dem Schöpfer zu gefallen; es ist die Natur, von der ich meine Neigungen
emfangen habe, und ich werde sie nicht verwirren, indem ich ihr widerstrebe,
wenn sie mir schlechte Neigungen gegeben hat, die so geworden sind, weil es
für ihre Absichten nötig war. Ich bin in ihrer Hand nur eine Maschine,
die sich nach ihrem Belieben bewegt, und jedes meiner Verbrechen dient ihr;
je mehr Verbrechen sie mir rät, desto mehr hat sie offenbar nötig,
ich wäre ein Dummkopf, ihr darin zu widerstreben.
aus: Marquis de Sade: Einleitung zu Die Hundertzwanzig Tage von Sodom
oder die Schule der Ausschweifung
Was führt einen Künstler dazu, sich mit de Sades Beschreibungen der
ungeheuerlichsten Perversionen, Foltern und Qualen auseinandersetzen?
Was führt einen Künstler dazu, diese auch noch zu einem Theaterstück
zu konzentrieren?
Ist es die geheime Befriedigung nie zugelassener Lüste und Wünsche?
Ist es das Spekulieren mit dem Voyeurismus eines sensationsgeilen und gleichzeitig
-gesättigten Publikums?
Schaut unsere Welt nicht trostlos genug aus, daß wir uns auch noch die
kranken Phantasien eines Herrn de Sade reinziehen müssen?
ZUM INHALT:
Eine - moderne - Frauenfigur, unterstützt von einem Diener/Künstler, tastet sich durch das Labyrinth der Ausschweifungen von De Sade.
ZUR FIGUR:
Die Frau, eine riesenhafte Figur, ist Bernharts erste dezidiert dunkle Frauenfigur, eine Antipode zu Hildegard von Bingen (in Willi Bernharts DIALOGE MIT GOTT). Verkörperte letztere die Untiefen des Himmels, so kann man von der De-Sade-Frau durchaus von einer Höllenfrau sprechen. Gleiches gilt auch für die Figur des Dieners/Künstlers in Bernharts DE SADE-Fraktat.
Was muß eine Schauspielerin/ein Schauspieler leisten, um die Urgewalt des De Sade-Materials
auszuloten ohne Zuhilfenahme von peinlichem Naturalismus?
Wie kommt man/frau überhaupt den von De Sade beschriebenen Ungeheuerlichkeiten
bei?
Was darf man in der Öffentlichkeit überhaupt von sich geben? Gibt
es eine moralisch-ethische Grenze, die ein Theater nicht überschreiten
sollte?
Ist Marquis de Sade ein Tabubruch?
Welche poetischen Bilder sind überhaupt imstande, dieses Material zu transportieren?
ZUR THEATRALISCHEN UMSETZUNG:
Die Erforschung der Darstellungs- und Mitteilungsmöglichkeiten von Ungeheuerlichkeiten werden zentraler Bestandteil dieses Stücks. Um das Textmaterial sich entfalten zu lassen, wird ein Höchstmaß an Schlichtheit in der Komposition des Stückes und in der Darstellung gefordert sein. Formal wird es sich um eine Art szenische Versuchsanordnung, um eine theatralische Testreihe handeln.
De Sade ist einer unserer großen Dichter. Wir sollten seiner Schonungslosigkeit,
Radikalität und Ehrlichkeit mehr Ehre zollen und mehr Aufmerksamkeit widmen.
Willi Bernhart